In seiner über hundertjährigen Geschichte hat sich der Tango in Musik, Lyrik und im Tanzstil ständig verändert und war immer Ausdruck des jeweiligen Zeitgeists. Als zwischen 1855-1880 Europa am Rande des wirtschaftlichen Ruins stand, suchten Millionen europäischer Auswanderer ihr Glück auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Sie ließen ihre Familien und Freunde zurück, um im Land der Verheißung das große Geld zu machen. Neben den Europäern nahm auch der Bevölkerungsteil von Afrikanern in dieser Zeit enorm zu, da viele Sklavenschiffe, von Afrika kommend, die südamerikanischen Häfen anliefen, von wo aus die Sklaven nach Nordamerika weiter transportiert werden sollten.
Nach einer Reihe von Auswandererwellen begründete sich das sogenannte "Goldene Zeitalter", das von 1880 bis etwa 1910 reichte. Massen von billigen Arbeitskräften und europäisches Knowhow sorgten für einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung in Argentinien. Wenn auch das Land ein Wirtschaftswunder erlebte, blieb für die meisten Einwanderer der erhoffte Reichtum nur eine Illusion und sie fristeten ein hartes Leben voller Armut und Sklavenarbeit, Einsamkeit und Verzweiflung.
Viele landeten am Rio de la Plata, in der Hafenstadt Buenos Aires. Die Neuankömmlinge siedelten in den ärmlichen Vororten der Metropole. Sie lebten zusammen mit argentinischen Bauern, Gauchos und Kriminellen, eingepfercht in so genannte Conventillos, Mietskasernen, in denen fünf oder sechs Männer in einem Zimmer hausten. Am Abend traf man sich auf den Straßen und in den Bars, wo Musik und Alkohol die Gefühle von Heimweh und Entwurzelung betäuben sollten.
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Durch die Einflüsse dieses multikulturellen Publikums entstand in den Vergnügungszentren von Buenos Aires eine neue Musik,
ein neuer Rhythmus, ein neues Genre von Chansons und ein neuer Tanz - der Tango. Er begann mit Flöte , Geige, Gitarre und
Klavier und erhielt später durch das Bandoneon seinen unverwechselbaren Klang. Seinen Namen trägt dieses Instrument nach seinem Erfinder,
dem Deutschen Heinrich Band. Gebaut wurde es im Erzgebirge in dem kleien Ort Carlsfeld, wo auch heute wieder Bandoneons gebaut werden. Der Markenname AA für Alfred Arnold ist auch heute noch legendär.
Im Tango drückte eine Außenseitergesellschaft ihre Gefühle, Sehnsüchte, Enttäuschungen und ihren Kummer aus.
Tangotexte wurden weitgehend improvisiert und entwickelten sich zu einer Art Blues von Buenos Aires.
Ebenso geschah es mit dem Tanz. Man bewegte sich zur Musik. Die Schritte wurden improvisiert.
Allerding entsprachen die enge Haltung und die getanzten Schritte nicht immer den gängigen Moralvorstellungen.
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Die emotional und sozial problematische Mangelsituation, zwei Drittel heiratsfähige Männer und nur ein Drittel junge Frauen,
trieb viele Männer auch in die zahlreich entstandenen Salons und Bordelle der Stadt.
Es bildeten sich Syndikate zum Import tausender Frauen aus aller Welt, sowie eine regelrechte Zuhältermafia.
Auch in diesem speziellen Milieu wurde der Tango getanzt.
Zuhälter benutzen die erotisierende Kraft des Tanzes, um potentiellen Kunden ihre Mädchen schmackhaft zu machen. Tango-Choreografien waren kommerziell auf sexuelle Anreize gerichtet und ließen den Satz entstehen:
"Tango ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Bedürfnisses." (George Bernard Shaw)
Obwohl die feine Gesellschaft von Buenos Aires über diesen ungehörigen Tanz die Nase rümpfte, wurde der Tango doch immer reizvoller für sie. Weil es in den gehobenen Kreisen üblich war, seine Kinder zum Studium nach Paris zu schicken, wanderte der Tango um 1900 an die Seine und verbreitete sich dort wie eine Sucht. Alles was in Pris "in" war wurde in Buenos Aires begeistert nachgemacht. So kam der Tango nach Buenos Aires zurück und wurde auch in den feineren Schichten akzeptiert.
Langsam fand er seinen Weg in die Cafes und Tanzhallen und unterwanderte als Modetrend die Oberschicht. Die elegante Gesellschaft fand den Tango plötzlich schick und erfreute sich an Eleganz und Erotik dieses Tanzes.
Natürlich veränderte die elegante europäische Umgebung die Tango - Choreografien und die Bewegungen wurden züchtiger, aber auch raffinierter. Von Paris aus breitete sich das Tangofieber über ganz Europa aus und ergriff Besitz von allen Schichten der Bevölkerung.
Carlos Gardel
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Als 1919 in Argentinien die Bordelle geschlossen wurden, verlagerte sich der Tango auf die Bühnen der
Kabaretts und Theater. Außerdem wurden Milongas (Tangotanzabende) und Prácticas (Gruppenunterricht) abgehalten, wo sich
Jung und Alt zum Tanzen trafen. Tangogesänge waren in Mode, nicht mehr so obszön wie früher, aber immer noch vulgär, mit den
Themen des einfachen Volkes. Einer der berühmtesten Interpreten war Carlos Gardel (1890-1935): Ausgestattet mit einer begnadeten
Stimme und einem unverwechselbaren Timbre erlangte er als Musiker, Komponist, Schauspieler und Sänger von Tangoliedern Weltruf.
International entwickelte sich der Tango zum anerkannten Gesellschaftstanz und wurde 1922 in London im Rahmen des
Welttanzprogramms dem englischen Bewegungsstil angepasst. Von da an wurde zwischen der ursprünglichen Form, dem Tango Argentino,
und der von den Engländern systematisierten und zensierten Form, dem internationalen Tango, unterschieden.
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"El Cachafáz" und
Carmen Calderón
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Nach 1955, in den harten Zeiten argentinischer Militärdiktatur, wurde es um den Tango sehr still und viele Künstler übten ihre Musik und Tanzkunst im Exil, in Nordamerika oder Europa, häufig in Paris aus. Dort erfreuten sich die Shows und Tourneen immer größerer Beliebtheit und führten zum Re-Import des Tango in sein Ursprungsland.
In den letzten Jahren erlebt der Tango eine große Wiederauferstehung.
In Europa, in Argentinien und auf der ganzen Welt tanzen immer mehr Paare den Tango Argentino.
Seit dem Jahr 2009 gehört der Tango Argentino zum Weltkulturerbe - als schützenswertes immaterielles Kulturgut.
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